Texte

von Christian Schuster

Boris Aleksandrovič Čajkovskij


* 10. September 1925
† 7. Februar 1996

Trio für Klavier, Violine und Violoncello, D-Dur (1953)


komponiert: Moskau, 1953
Uraufführung: Moskau, Kleiner Saal des Konservatoriums, 23. Oktober 1956
Boris Aleskandrovič Čajkovskij, Klavier
Viktor Aleksandrovič Pikajzen (Pikeisen, * 1933), Violine
Evgenij Aleksandrovič Al´tman (Altmann, *1932), Violoncello
Erstausgabe: Muzgiz, Moskau, 1962



Boris Čajkovskijs einziges Klaviertrio entstand am Beginn seiner Laufbahn als freischaffender Komponist – und am Ende der stalinistischen Nacht. Der frische, entschlossene und mutige Zug, der das Werk charakterisiert, mag mit beiden Umständen zu tun haben, aber vielleicht acuh damit, daß es das erste selbständige Kammermusikwerk im Œuvre Boris Čajkovskijs ist. Daß die Inspiration des jungen Komponisten aus vielen verschiedenen Quellen gespeist wird, ist ebenso unüberhörbar wie seine bemerkenswerte Fähigkeit, sich diese heterogenen Anregungen scheinbar mühelos anzuverwandeln. Vieles in dieser Partitur zeugt von einer mehr als nur oberflächlichen Kenntnis der Werke Stravinskijs und Ravels sowie von wachem Interesse für die Ästhetik des sehr verkürzend so genannten „Neoklassizismus“, der sich ja in Wahrheit meist an vorklassischen und barocken Modellen inspiriert. Viele dieser Anstöße mögen nicht nur durch den Unterricht, sondern vor allem durch das Schaffen Šostakovičs vermittelt worden sein – und an mehr als einer Stelle des Werkes wird man daran erinnert, welchen unerschöpflichen Reichtum an prägnanten Modellen Šostakovič allein mit seinen im Jahr zuvor erschienenen 24 Präludien und Fugen (op. 87, komponiert Oktober 1950 bis Februar 1951) seiner Mitwelt geschenkt hat. Vor allem aber läßt uns der junge Boris Čajkovskij nie darüber im Zweifel, daß wir es hier mit dem Werk eines russischen Komponisten zu tun haben.

Die am Beginn des Trios stehende Toccata (Presto, h-moll) ist ein Husarenstück, in dem polyphoner Feuereifer und übermütige Spottlust einander zu immer neuen Capriolen anstacheln. Ein metrisches Wechselbad zwischen barocker Rigidität und folkloristischer Asymmetrie sorgt dafür, daß Interpreten und Zuhörer hellwach bleiben. Die Anlage des Satzes folgt in Grundzügen den Konventionen der Sonatenhauptsatzform, wobei die neobarocken Elemente im Hauptsatz und die slavischen Motive im Seitensatz konzentriert sind.

Eine merkwürdige und nicht alltägliche Kombination von „bachischen“ und „französischen“ Topoi kennzeichnet die folgende Aria, den langsamen Mittelsatz unseres Trios (Adagio – Andante, D-Dur). Auch hier verwendet der Komponist die idiomatische Doppelgesichtigkeit zur Schärfung des formalen Profils: In dem sehr ebenmäßig strukturierten fünfteiligen Satz (A-B-A-B-A) stehen historisierende Polyphonie (Adagio im Dreivierteltakt) und eine homophone „Valse lente“ (Andante im Dreiachteltakt) einander gegenüber; in den letzten beiden Formteilen werden die beiden Schichten einander angenähert, indem das homophone Element kontrapunktisch angereichert und die Vielstimmigkeit „ausgedünnt“ wird.

Der ambitionierteste und gewichtigste Satz des Werkes sind ohne Zweifel die Finalvariationen über ein eigenes Thema (Moderato non troppo, h-moll/D-Dur). In der Sekundärliteratur wurde auf die unbestreitbare Verwandtschaft dieses Finales mit demjenigen der (übrigens in der selben Grundtonart, h-moll, stehenden) zweiten Klaviersonate (op. 61, 1942) von Dmitrij Šostakovič hingewiesen. (Echos dieser Sonate finden sich übrigens auch schon in der Toccata.) In wirkungsvollem Kontrast zur „unendlichen Melodie“ der vorangehenden Aria ist das Thema der Variationen in markant kurze rhetorische Gesten gegliedert, hinter denen man aber unschwer die Kontur einer regelmäßigen Periode (mit einem auf die Subdominante führenden Vordersatz und einem in der Dominante endenden Nachsatz) erkennt. Ähnlich wie im Finale von Šostakovičs Klaviersonate entsteht durch die Fragmentierung des Themas der Eindruck des mit Anstrengung und nicht zu Ende Gesagten. Nach den ersten vier Variationen, in denen die diastematische Kontur des Themas erkennbar bleibt, setzt ein Auflösungsprozeß ein, der die Grundgestalt in immer weitere Ferne rückt. Der „Variationencharakter“ erhellt bald nur noch aus dem abschnittweisen Texturwechsel und aus den immer wieder charakteristisch aufblitzenden Themengesten. Gleichzeitig gerät die harmonische Folie in immer freiere Bewegung, bis endlich auch die Erinnerung an das Thema ausgelöscht erscheint. Auf dem Höhepunkt der Verwirrung und Aufregung erscheint die mächtige Rückkehr der Urgestalt in der Ausgangstonart wie ein Jüngstes Gericht. In den nachfolgenden Variationen wandelt sich die Gestik des Themas schrittweise: Die Hand, in der eben noch das Richtschwert blitzte, scheint zu segnen, und, während alle durchschrittenen Tonlandschaften noch einmal träumerisch überflogen werden, findet der Satz zu einem von allen Konflikten erlösten Ende in paradiesischem D-Dur.
Daß hier die Auflösung aller schmerzlichen Widersprüche in eine andere Region als die der Grundtonart verlagert wird, läßt das Versprechen dieses Finalsatzes als Utopie erscheinen. Rückblickend gewinnen so der bitonale (H-Dur/h-moll) Schluß der Toccata und die Allgegenwart des Leittones (cis) in der Aria einen Nebensinn, der, hätte ihn der Komponist anders als musikalisch ausgesprochen, der Uraufführung und positiven Bewertung des Werkes in der Sowjetunion vor einem halben Jahrhundert sicher im Weg gestanden wäre. In den geänderten Bedingungen des globalen Hedonismus ist solches Ungemach nicht mehr zu befürchten – freilich auch nicht zu erwarten, daß eine solche Botschaft gehört und verstanden werde.

© by Claus-Christian Schuster