Texte

von Christian Schuster

Ludwig van Beethoven


* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Trio D-Dur op.70 Nr.1 ("Geister Trio")


Komponiert:    Wien, etwa Juni bis September 1808
Widmung:    Anna Maria von Erdödy, geb. Niczky (1779-1837)
Uraufführung:    privat: Wien, Krugerstraße 10 (bei Gräfin Erdödy), vor dem 10.Dezember 1808
Ludwig van Beethoven, Klavier
Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
Joseph Linke (1783-1837), Violoncello
Erstausgabe:    Breitkopf & Härtel, Leipzig, August 1809

In Beethovens Kammermusik ist die Dreisätzigkeit die Ausnahme: Schon in seinem Opus 1 wendet er sich von diesem bis dahin vorherrschenden Schema ab, und nach dem Klaviertrio op.11 („Gassenhauer-Trio“), den drei Sonaten für Klavier und Violine op.12 und der Hornsonate op.17 – alle diese Werke entstanden zwischen 1797 und 1800 – werden wir nur noch viermal dreisätzigen Kammermusikwerken begegnen: der Sonate für Klavier und Violine op.30 Nr.3 (G-Dur), der „Kreutzer-Sonate“ (op.47), dem vorliegenden Trio und zuletzt der Sonate für Klavier und Violoncello op.102 Nr.2, die mit dem „Geister-Trio“ auch in Grundtonart und Tonartenfolge übereinstimmt. (Es ist vielleicht erwähnenswert, daß auch Beethovens beide D-Dur-Klaviersonaten, op.10 Nr.3 und op.28, dreisätzige Werke mit einem Mittelsatz in D-moll sind.)
Offenbar wurde die Arbeit an diesem Trio während eines Sommeraufenthaltes in Heiligenstadt begonnen, und zwar allem Anschein zu einem Zeitpunkt, als das Schwesterwerk schon recht weit gediehen war; trotzdem war das Werk (laut Beethovens Zeugnis) bereits Mitte September, also früher als das Es-Dur-Trio, vollendet.

Das eröffnende Allegro vivace e con brio überfällt den Zuhörer mit einem lapidaren Incipit, dessen gedrängter Ansturm keinen Raum für metrische Ordnung läßt - erst dahinter eröffnet sich nach einer ebenso jähen wie scheinbar folgenlosen Wendung in die Submediante der schwärmerische Reichtum eines begeisterten Dreivierteltaktes. Der hymnische Fluß dieser wohl gerafftesten aller großen Beethoven-Expositionen vereint auf engstem Raum „bildhauerische“ und „malerische“ Elemente. In der Durchführung, die der Exposition an Prägnanz um nichts nachsteht, treten die einzelnen motivischen Elemente in einen ebenso brillanten wie subtilen kontrapunktischen Wettstreit. Erst in der Reprise wird in verdoppeltem Anlauf die am Satzbeginn angedeutete Submediantrückung beim Wort genommen: Dieser B-Dur-Exkurs mutet wie ein träumerischer Vorgriff auf die Welt des „Erzherzog-Trios“ an. Trotz dieser lyrischen Erweiterung bleibt aber auch hier die ungewöhnliche Gedrängtheit der Darstellung bewahrt, so daß die von Beethoven geforderte (und von den meisten Interpreten kaltblütig verweigerte) Wiederholung von Durchführung und Reprise gewissermaßen eine architektonische Notwendigkeit darstellt. Erst danach, zum Beginn der Coda, darf sich der unaufhaltsame Fluß eine kurze Wegstrecke lang in die (bis dahin kaum berührte und jetzt umso zauberischer wirkende) Subdominante G-Dur weiten. Mit einer Crescendo- Stromschnelle kommt der Satz dann zu einem das Incipit ein letztes Mal energisch resümierenden Abschluß.

Daß der Mittelsatz (Largo assai ed espressivo, d-moll) das Herzstück des Werkes sei, darüber herrscht zwischen Hörern, Interpreten und Musikwissenschaftlern seltene Einmütigkeit. Der Einzigartigkeit dieser tondichterischen Vision ist Stefan Kunze (1933-1992) in einer bemerkenswerten Studie („Beethovens »Besonnenheit« und das Poetische“) nachgegangen. Hier wird auch eine ebenso differenzierte wie klare Antwort auf die seit den verunglückten literarischen Deutungsversuchen von Arnold Schering (1934) nicht mehr verstummen wollende Frage nach der Beziehung zwischen (nicht unwahrscheinlichen) außermusikalischen Anregungen und dem Beethovenschen Werk gegeben: „Die Bündigkeit, mit der [...] Empfindung und Konstruktion sich gegenseitig bedingen, spricht dafür, daß zwischen dem möglichen Ausgangspunkt und dem Resultat (dem vollendeten Werk) kein relevantes Verhältnis mehr besteht, kein Rest von »Abbildlichkeit« bleibt. Die Sprachfähigkeit von Beethovens Musik hat Ergänzung oder Stützung nicht nötig. Die Wirklichkeit, die aus Beethovens Tönen spricht, ist eine in keiner Hinsicht erborgte - weder aus dem Reich romantischer Welterfahrung, noch aus Shakespeares nachtschwarzen albtraumhaften Visionen, die ihrerseits unübertragbar sind. Seine Musik bedarf keines »Schlüssels«, der außerhalb ihrer selbst zu suchen wäre. (Dies soll nicht heißen, es sei nicht wissenswert, wodurch Beethovens Phantasie im einen oder anderen Fall in Gang gesetzt, vielleicht beflügelt wurde.)“ Im konkreten Fall wird eine solche Wißbegierde wenigstens zum Teil dadurch befriedigt, daß sich auf einem Skizzenblatt Entwürfe zu einer geplanten Oper Macbeth und zu unserem Largo unmittelbar nebeneinander (und auch durch die gleiche Tonart aufeinander bezogen) finden. Den evokativen Reichtum dieser Musik aber auf ein Shakespeare-„Programm“ festlegen zu wollen (worauf ja auch die populäre Bezeichnung „Geister-Trio“ abzielt), hieße, die Autonomie der hier gewonnenen musikalischen Gestalt zu verkennen. Wer noch einen Beweis für die Unzulänglichkeit der „Programm“-Theorie sucht, kann ihn übrigens im Autograph des Satzendes finden: Nicht weniger als fünf Anläufe benötigte Beethoven, um zur gültigen Formulierung dieses Schlusses zu gelangen - und die beiden vollständig ausgeführten Varianten münden wahlweise in einen konzis affirmativen (die verworfene) und einen erschöpft verebbenden Schluß (die endgültige Fassung); daß das bei Vorliegen eines konkreten außermusikalischen dramaturgischen Programms schwer denkbar wäre, dürfte wohl einleuchten.

Der Finalsatz (Presto) mutet wie eine spielerische, von allen dramatischen und kontrapunktischen Komplikationen befreite Widerspiegelung des Kopfsatzes an. Dieser Eindruck wird schon durch die auffällige, mit einer Fermate betonte Mediantwendung der ersten Phrase hervorgerufen – das irrationale und folgenlose Fis-Dur entspricht spiegelbildlich dem ebenso „unerklärten“ B-Dur am Anfang des Werkes. Die Fernbeziehung zwischen den beiden Wendungen wird am Ende des Satzes (T.378 ff.), wo die „Auflösung“ in die Tonika den Umweg über B-moll nimmt, noch sinnfälliger. (Natürlich läßt sich hier wie dort ganz bequem eine rein funktionale Erklärung des Vorganges finden, aber mit der unmittelbar erlebbaren Klangrealität haben solche Erklärungen recht wenig zu tun.) Auf die generische Verwandtschaft dieses Finales mit dem 5. Satz aus dem Streichquartett op.131 ist schon verschiedentlich hingewiesen worden – beiden Sätzen ist nicht nur die eben erwähnte harmonische Finesse, sondern auch Tempobezeichnung, Taktart und metrisches Grundgerüst gemeinsam. Die – vor allem nach dem vorangegangenen Largo – verblüffende Leichtgewichtigkeit des Schlußsatzes, seine geradezu clownesken (stellenweise wäre man sogar versucht zu sagen: dadaistischen) Züge wurden und werden von einigen strengen Kunstrichtern mit kritischem Stirnrunzeln vermerkt; doch gerade diese dramaturgische Eigenwilligkeit ließe sich in konsequenter Fortsetzung der im Largo geweckten Assoziationen mit ähnlich radikalen Stimmungsbrüchen in den Shakespeareschen Tragödien in Zusammenhang bringen. Joseph Kerman nannte den Satz „Beethoven´s Musikalischer Spaß without Mozart´s malice“ – und, wie immer man über Mozarts Bosheit denken mag, ein wirklicher Spaß ist dieses Finale allemal.

© by Claus-Christian Schuster